Erst For-Profit, dann Non-Profit – auf der Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten ist Julia Selle, Alumna des MBA Sustainability Management, während des Studiums aus dem Konzern in eine NGO gewechselt. Als Niederlassungsleiterin bei SOS-Kinderdörfer weltweit treibt sie eine nachhaltige Entwicklung voran und wandelt dabei zwischen den zwei Welten NGO und Unternehmen. Ein Auszug ihrer Masterarbeit im Themenfeld „Effektiver Altruismus“ erschien im Herbst in einem Handbuch zum Thema Fundraising. Was sich dahinter verbirgt und wie sich Unternehmenskooperationen gewinnbringend gestalten lassen, verrät sie im Interview.
Sie sind in einer NGO tätig und haben einen MBA studiert – was war Ihre Motivation und haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?
Die Entscheidung, den MBA Sustainability Management zu studieren, erfolgte bereits während meiner Zeit im Konzern. Nach acht Jahren in der Unternehmenskommunikation der Metro AG begann ich mich zu fragen, ob mich das, was ich jeden Tag tue, noch glücklich macht. Ich entschied mich für eine viermonatige Auszeit, in der der Wunsch nach Veränderung entstand. Ich kehrte zurück, entschied mich für den MBA und wechselte kurze Zeit später von der Kommunikation in den Bereich Corporate Responsibility. Für den MBA entschied ich mich, weil ich meine Kenntnisse im Themenfeld Nachhaltigkeit wissenschaftlich untermauern wollte. Im CR-Bereich der Metro verantwortete ich das internationale Corporate Citizenship sowie das Thema Diversity. Die Zusammenarbeit mit internationalen NGOs machte mir so viel Spaß, dass ich mich schließlich entschloss, die Seite zu wechseln. Seit 2018 arbeite ich für die SOS-Kinderdörfer. Einer meiner Schwerpunkte ist die Anbahnung von Unternehmenskooperationen – und da schließt sich der Kreis.
Meine Erwartungen an den MBA haben sich erfüllt. Das Studium war für mich eine Art Brandbeschleuniger für Veränderungen in meinem beruflichen Leben, aber auch im Privaten. Neben den Inhalten haben mich die Begegnungen mit meinen Kommilitonen geprägt und inspiriert. Ein belastbares Netzwerk ist entstanden und geblieben.
Welche Inhalte des MBAs sind für Ihre Tätigkeit bei SOS-Kinderdörfer besonders wichtig?
Gedanklich bin ich über die Rolle von Unternehmen in unserer Gesellschaft zur Nachhaltigkeit gekommen. Umweltskandale wie die Versenkung der Ölplattform „Brent Spar“, Lebensmittelskandale wie Gammelfleisch und Genmanipulationen sowie damit einhergehende Verbraucherboykotte haben mich schon immer in ihrer Dynamik interessiert.
Heute verfügen die meisten Unternehmen über eigene CSR-Abteilungen. Hier wird das Kerngeschäft beleuchtet und nachhaltig(er) gestaltet und hier werden soziale Kooperationen geschmiedet. Da ich heute Partnerschaften von der NGO-Seite gestalte und betreue, profitiere ich damals wie heute besonders von meinem im Studium erworbenen Wissen rund um das Thema unternehmerische Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft.
In Ihrer Masterarbeit haben Sie sich mit dem Thema „Effektiver Altruismus“ beschäftigt. Was steckt hinter diesem Ansatz?
Der Effektive Altruismus (EA) ist eine im angelsächsischen Raum entstandene Philosophie, die es für ethisch zentral hält, anderen aktiv zu helfen. Geldspenden sind dabei das wichtigste Instrument. Im Fokus steht die Wirkung der Spende. Einflussfaktoren auf den Spender, also seine Einstellungen und Motive, seine Emotionen und persönlichen Verbindungen zum Spendenprojekt werden ausgeblendet. Gespendet wird auf Grundlage von mathematischen Berechnungen an das Projekt mit der höchsten Wirkung.
Warum sollten sich NGOs damit beschäftigen?
Wenn die Philosophie des Effektiven Altruismus weiterwächst, ist es möglich, dass sich das Spenderverhalten auf dem deutschen Markt verändert. Klassische NGO müssen sich dann in diesem Umfeld behaupten. Um herauszufinden, wie hoch der mögliche Einfluss hierzulande ist, habe ich im Rahmen meiner Masterarbeit Spender interviewt. Aus den Ergebnissen sind acht Handlungsempfehlungen für NGO entstanden. Sie sollen aufzeigen, an welcher Stelle es für NGO Sinn machen kann, einzelne Aspekte des Effektiven Altruismus in die eigene Tätigkeit zu integrieren und wo eine bewusste Abgrenzung sinnvoll sein kann. Selbstverständlich ist es unabhängig vom Effektiven Altruismus für NGO wichtig, die Wirksamkeit ihrer Arbeit gegenüber dem Spender belegen zu können.
Für viele Unternehmen wird Nachhaltigkeit in der Geschäftstätigkeit wichtiger – ist dies für SOS-Kinderdörfer im Bereich Unternehmenskooperationen spürbar?
Wir stellen fest, dass das Interesse von Unternehmen sich sozial zu engagieren im Verlauf der letzten Jahre gestiegen ist. Dies merken wir an der Anzahl der Anfragen, die eingehen und die immer häufiger auch aus dezidierten CSR-Abteilungen kommen. Dabei spielt vermehrt auch der Bezugsrahmen der Sustainable Development Goals (SDG) eine Rolle. Um diesem Bedarf zu begegnen, stellen wir z.B. in unserem aktuellen Geschäftsbericht den jeweiligen SDG-Bezug unserer Projekte vor. Auch das Interesse an einer Einbindung der Mitarbeiter (Corporate Volunteering) ist sehr stark gestiegen. Dies versuchen wir vermehrt auch über digitale Tools anzubieten, z.B. über Online-Mentoring-Formate für unsere Jugendlichen in 137 Ländern der Welt.
Aktuell wird das Lieferkettengesetz in der Politik diskutiert. Auch ein Thema, auf das wir uns aktuell vorbereiten, weil wir eine vermehrte Nachfrage spüren. Ein Lieferkettengesetz würde Unternehmen dazu verpflichten, Risiken ihrer globalen Geschäfte auf Menschenrechte und Umwelt zu ermitteln, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen und darüber transparent zu berichten. Sollte es zur Verabschiedung des Gesetzes kommen, sind wir mit unseren bereits implementierten Projekten und mit dem, was wir aktuell zusätzlich in diesem Bereich planen als Partner für Unternehmen gut aufgestellt.
Wirkt sich der Klimawandel schon auf die Situation in Ihren Projektländern aus und gibt es bereits strategische Überlegungen, wie sich SOS-Kinderdörfer darauf einstellen werden?
Die Auswirkungen des Klimawandels sind zentrale Gründe für Hunger und Armut weltweit. Dies bedeutet, dass der Klimawandel schon heute einen großen Einfluss auf unsere Arbeit und die Situation vor Ort hat. Deshalb ist es für uns als Kinderhilfswerk wichtig, neben unserer originären Aufgabe, der Betreuung der uns anvertrauten Kinder, auch das Thema Umwelt- und Klimaschutz im Blick zu behalten. Durch Aufklärung und Bildung vor Ort stoßen wir Veränderungen an, sensibilisieren für die Themen Umwelt- und Klimaschutz und integrieren sie in unsere tägliche Arbeit. Selbstverständlich ohne dabei unseren Fokus zu verlieren.
Der MBA ist mit seinen aktiven Studierenden und den Absolvent*innen das weltweit größte organisierte Fachnetzwerk für Nachhaltigkeitsmanagement. Wie wichtig sind in Ihrer Arbeit Netzwerke?
Für meine Arbeit ist das Netzwerken essentiell, denn Kooperationen entstehen durch Kontakte.
Neben meinen informellen Netzwerken bin ich in einigen organisierten Netzwerken aktiv. Dazu gehören auch zwei reine Frauennetzwerke: Ich habe mich in diesem Jahr den Futurewoman angeschlossen. Ziel des Netzwerkes ist es, Frauen in der Nachhaltigkeit sichtbar zu machen und sie in ihren Karrieren zu unterstützen. Ein wichtiges Anliegen, wie ich finde. Außerdem bin ich Teil des lokalen Ivy Female Collective Netzwerkes. Ein Netzwerk von ambitionierten Frauen aus Düsseldorf und Umgebung.
Ich bin sehr froh, durch den Alumni-Verein ein belastbares Fachnetzwerk dazugewonnen zu haben. Ich schätze den Austausch, aber auch die zahlreichen Angebote, an z.B. MBAlive Meetings, exklusiven Jobangeboten, HomeComingDays usw. Aber auch auf der informellen Ebene bin ich auch nach dem Abschluss noch mit vielen ehemaligen Kommiliton*innen in Kontakt. Durch die Studienreisen und die HCD pflege ich auch Kontakte zu anderen Jahrgängen. Auch hier hat sich schon der ein oder andere berufliche Anknüpfungspunkt ergeben.
Bei den SOS-Kinderdörfern kooperieren wir in Deutschland z.B. mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Auch hier sind Netzwerke entstanden, in denen wir auch eng mit andere NGO zusammenarbeiten, um gemeinsam Themen auf bestimmte Agenden zu setzen.
Blicken wir nach vorn: Wie werden Sie am Ende des Jahres 2021 die Welt nachhaltiger gemacht haben?
Unser Ziel ist es, Teufelskreise zu durchbrechen. Wir helfen Kindern, die einen schweren Start in ihr Leben hatten, zu eigenständigen Persönlichkeiten zu werden. In den vergangenen sieben Jahrzehnten wuchsen weltweit 255.000 Jungen und Mädchen in SOS-Kinderdörfern auf. Rund 3,7 Millionen weitere Kinder erhielten Unterstützung in ihrer Herkunftsfamilie. Über 90 Prozent von ihnen leben heute als Erwachsene ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut. Viele tragen heute selbst zu Verbesserungen in ihren Gemeinden bei. Unsere Projekte kommen nicht nur einzelnen Kindern und Familien zu Gute, sondern verändern ganze Gesellschaften. Eine unabhängige Wirksamkeitsstudie belegt eine langfristige positive Veränderung des Lebens der Unterstützten bis in die nächste Generation. Wir setzen uns auch für eine Geschlechtergerechtigkeit ein. Denn viel zu oft werden Mädchen und Frauen benachteiligt.
Unsere Vision lautet: „Jedem Kind ein liebevolles Zuhause.“ Gemeinsam mit unserem Ziel, Teufelskreise zu durchbrechen, ist diese Vision auch der Antrieb meiner täglichen Arbeit. Ich hoffe, dass wir am Ende des Jahres 2021, aber auch in jedem weiteren Jahr, zurückblicken werden auf möglichst viele Kinder und Jugendliche, deren Leben durch unsere Arbeit eine Wendung zum Besseren genommen hat.
Vielen Dank, wir wünschen Ihnen viel Erfolg dabei!
Das Interview führte Anna Michalski vom Centre for Sustainability Management (CSM), Leuphana Universität Lüneburg.
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SOS-Kinderdörfer weltweit
Der effektive Altruismus als neue Größe auf dem deutschen Spendenmarkt – Link zur vollständigen Masterarbeit von Julia Selle
„Handbuch Fundraising“ von Michael Urselmann
Netzwerk Futurewoman
Netzwerk Ivy Female Collective
Foto: Carmen Sánchez Notario